Das Tagebuch meiner Uroma
Meine Uroma hat zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Tagebuch geführt. Es sind viele Seiten in der virtuosen Handschrift meiner Uroma, geschrieben ohne Punkt und Komma, mit jeder Menge Namen, die ich nicht zuordnen konnte und einem Dialekt, den ich nicht verstand. Irgendwann hat meine Oma, also die Schwiegertochter meiner Uroma, das Tagebuch abgetippt, um es für die Nachwelt festzuhalten. Ich bin meiner Oma sehr dankbar, dass sie das Tagebuch aufbewahrt hat und diese mühselige Digitalisierung übernommen hat. Ich habe es mir seitdem immer wieder durchgelesen und merke, dass ich es anders interpretiere und hinterfrage, je älter ich selbst werde.
Das Tagebuch beschreibt die letzten Wochen in ihrer Heimatstadt in Ostpreußen, wie sie sich weigert, mit den anderen zu fliehen, und stattdessen der Frontlinie folgt und dort als freiwillige Krankenschwester die verletzten Soldaten versorgt. Ihr Weg führt vom heutigen Litauen bis nach Berlin, wo sie auch die letzten Straßenschlachten um den Zoo-Bunker dokumentiert. Später beschreibt sie auch ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft und den kalten Nachkriegswinter in Berlin. Geschrieben hat sie all das einige Zeit nach den Erlebnissen.
Das Buch ist ein heftiges Zeitzeugnis, und schon zu meiner Schulzeit war es krass, dass die Dinge, die ich in Geschichte lernte, dort in diesem Tagebuch aus der Perspektive meiner Uroma, die ich sogar noch kennengelernt hatte, wiederzufinden. Damals war ich irgendwie stolz: auf ihren ungewöhnlichen Einsatz als freiwillige Krankenschwester, der ihr das „Eiserne Kreuz zweiter Klasse“ bescherte, aber auch auf ihre Leidenschaft für Musik und ihre fast lyrische Ausdrucksweise, die mir sehr nahegeht. Vor allem aber war ich erleichtert, dass sie große Teile der nationalsozialistischen Propaganda nicht reproduzierte, insbesondere, dass sie sich in dem Buch nicht antisemitisch äußerte.
Mit der Zeit hat sich mein Blick auf ihr Tagebuch geändert, und ich hinterfrage den Inhalt immer mehr. Ich stolpere über ihren Glauben an Hitler und damit den Nationalsozialismus und über den verblendeten Optimismus, den Krieg noch gewinnen zu können. Und auch über das Überlegenheitsgefühl, das dabei mitschwingt. Besonders eindrücklich sind ihre Beschreibungen vom Kriegsende und das Gefühl, betrogen worden zu sein, sowie der gebrochene Glaube an ein System, dem ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit folgte. Ich frage mich, wie man einer solch menschenfeindlichen Ideologie folgen und daran glauben konnte. Das kann man sich über fast jeden Menschen damals fragen, aber das sind nun mal die ausgeschriebenen Gedanken MEINER Uroma. Man möchte doch immer irgendwie glauben, dass man selbst besser gewesen wäre; die eigene Familie besser gehandelt hat als der Durchschnitt. Was für ein Mensch war oder ist man im Grundsatz dann? Und auch: Was hat sie alles ausgelassen? Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass sie auf ihrem Weg mit der Front keine Zeichen des Holocaust wahrgenommen hat.
Trotzdem ist dieses Buch Teil meiner Identität. Durch das Andenken an meine Uroma, vor allem aber durch die Frage der Verantwortung durch die NS-Zeit, der sich sehr viele deutsche Familien nicht stellen.
Geboren 1998, ist jetzt wichtig
Wohnhaft in Münster
Das Tagebuch meiner Uroma
Meine Uroma hat zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Tagebuch geführt. Es sind viele Seiten in der virtuosen Handschrift meiner Uroma, geschrieben ohne Punkt und Komma, mit jeder Menge Namen, die ich nicht zuordnen konnte und einem Dialekt, den ich nicht verstand. Irgendwann hat meine Oma, also die Schwiegertochter meiner Uroma, das Tagebuch abgetippt, um es für die Nachwelt festzuhalten. Ich bin meiner Oma sehr dankbar, dass sie das Tagebuch aufbewahrt hat und diese mühselige Digitalisierung übernommen hat. Ich habe es mir seitdem immer wieder durchgelesen und merke, dass ich es anders interpretiere und hinterfrage, je älter ich selbst werde.
Das Tagebuch beschreibt die letzten Wochen in ihrer Heimatstadt in Ostpreußen, wie sie sich weigert, mit den anderen zu fliehen, und stattdessen der Frontlinie folgt und dort als freiwillige Krankenschwester die verletzten Soldaten versorgt. Ihr Weg führt vom heutigen Litauen bis nach Berlin, wo sie auch die letzten Straßenschlachten um den Zoo-Bunker dokumentiert. Später beschreibt sie auch ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft und den kalten Nachkriegswinter in Berlin. Geschrieben hat sie all das einige Zeit nach den Erlebnissen.
Das Buch ist ein heftiges Zeitzeugnis, und schon zu meiner Schulzeit war es krass, dass die Dinge, die ich in Geschichte lernte, dort in diesem Tagebuch aus der Perspektive meiner Uroma, die ich sogar noch kennengelernt hatte, wiederzufinden. Damals war ich irgendwie stolz: auf ihren ungewöhnlichen Einsatz als freiwillige Krankenschwester, der ihr das „Eiserne Kreuz zweiter Klasse“ bescherte, aber auch auf ihre Leidenschaft für Musik und ihre fast lyrische Ausdrucksweise, die mir sehr nahegeht. Vor allem aber war ich erleichtert, dass sie große Teile der nationalsozialistischen Propaganda nicht reproduzierte, insbesondere, dass sie sich in dem Buch nicht antisemitisch äußerte.
Mit der Zeit hat sich mein Blick auf ihr Tagebuch geändert, und ich hinterfrage den Inhalt immer mehr. Ich stolpere über ihren Glauben an Hitler und damit den Nationalsozialismus und über den verblendeten Optimismus, den Krieg noch gewinnen zu können. Und auch über das Überlegenheitsgefühl, das dabei mitschwingt. Besonders eindrücklich sind ihre Beschreibungen vom Kriegsende und das Gefühl, betrogen worden zu sein, sowie der gebrochene Glaube an ein System, dem ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit folgte. Ich frage mich, wie man einer solch menschenfeindlichen Ideologie folgen und daran glauben konnte. Das kann man sich über fast jeden Menschen damals fragen, aber das sind nun mal die ausgeschriebenen Gedanken MEINER Uroma. Man möchte doch immer irgendwie glauben, dass man selbst besser gewesen wäre; die eigene Familie besser gehandelt hat als der Durchschnitt. Was für ein Mensch war oder ist man im Grundsatz dann? Und auch: Was hat sie alles ausgelassen? Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass sie auf ihrem Weg mit der Front keine Zeichen des Holocaust wahrgenommen hat.
Trotzdem ist dieses Buch Teil meiner Identität. Durch das Andenken an meine Uroma, vor allem aber durch die Frage der Verantwortung durch die NS-Zeit, der sich sehr viele deutsche Familien nicht stellen.
Geboren 1998, ist jetzt wichtig
Wohnhaft in Münster